Zum Freitod des Mobbing-Opfers Amanda Todd (Kommentar)
Bereits im September veröffentlichte die 15-jährige Kanadierin Amanda Todd ein Aufsehen erregendes Video auf Youtube, in dem sie ihren Leidensweg als Mobbing-Opfer in der Schule beschreibt. Nachdem Todd kurz darauf Selbstmord beging, hat sich jetzt Anonymous involviert und die persönlichen Daten eines Mannes veröffentlicht, der die Jugendliche in den Freitod getrieben haben soll.
Das Video von Amanda Todd hat jetzt schon weit über 10 Millionen Klicks, dabei wird in dem Video nicht ein Wort gesprochen. Das, was wir von ihr selbst sehen, gleicht nicht mehr der jungen Frau auf dem Schulbuchfoto. Mit zerzaustem Haar, ohne erkennbare Gestik oder Mimik und anscheinend nach all dem Durchlebten nicht mehr zu einer aussagekräftigen Sprache fähig, erzählt sie ihr Martyrium anhand von beschriebenen Karten, die sie in die Kamera hält. Es ist an Grausamkeit kaum zu überbieten, was wir erfahren: Ein zu jenem Zeitpunkt für uns anonymer Chatpartner hat sie online dazu überredet, sich vor der Kamera zu entblößen und was Amanda damals noch als „Scherz“ unter Jugendlichen abtat, sollte sich sehr bald als ihr wohl größter Alptraum herausstellen. Ihr Gegenüber hatte nämlich einen Screenshot von ihr erstellt und diesen kurze Zeit später auf einer eigens dafür angefertigten Facebook-Seite veröffentlicht und die meisten ihrer Mitschüler über die Seite informiert. Was dann losbrach, kann man nur als Hölle bezeichnen. Sie wurde aufs Übelste beleidigt und angegriffen, in der Schule ausgegrenzt und stigmatisiert. In der Bibliothek und der Mensa saß sie immer allein, nicht ein einziger redete mit ihr. Bereits zu diesem Zeitpunkt erkrankte sie an schweren Depressionen und Angstzuständen. Nach einem tätlichen Angriff einer Mitschülerin auf sie vor der komplett versammelten Klasse versuchte sie sich das Leben zu nehmen, indem die Bleichmittel trank. Sie überlebte nur knapp. Was für einige möglicherweise ein Grund gewesen wäre, spätestens jetzt das Mobbing zu beenden, gab ihrem Peiniger erst recht Ansporn. Amandas Eltern wechselten nämlich mehrmals ihre Schule und den Wohnort. Sie wurde aber jedes Mal von ihm wieder ausfindig gemacht und alles begann von neuem. Amanda hatte zu diesem Zeitpunkt längst damit begonnen, sich die Arme zu ritzen. Sie versuchte mit Alkohol und Drogen für kurze Zeit der Hölle zu entkommen. Vergeblich. Die letzten Sätze in ihrem Video lauten: „Ich habe niemanden. Ich brauche jemanden. Mein Name ist Amanda Todd.“ Am 16. Oktober 2012, einer Woche vor ihrem 16. Geburtstag, versucht sie sich ein zweites Mal das Leben zu nehmen. Dieses Mal hat sie Erfolg.
Die Diskussion um Mobbing an Schulen ist alles andere als neu und es werden jedes Mal die gleichen Fragen aufgeworfen. Warum ist Amanda nicht zur Polizei gegangen? Warum sind ihre Eltern nicht zur Polizei gegangen? Wer hätte ihr helfen können? Wem hätte sie sich anvertrauen können? Gehen wir davon aus, dass Amanda Todd nichts dergleichen unternommen hat, kommen wir zu einer gefährlichen Frage: hat sie deshalb Mitschuld? Zur Beantwortung reicht ein klares und ebenso eindeutiges NEIN. Allzu oft vergessen wir bei der Frage, ob ein Mobbing-Opfer Mitschuld an seiner Situation hat, die Tatsache, dass wir ein irrationales Geschehen rational erklären wollen. In allen Fällen sind die Opfer jedoch von Beginn an so bedroht und eingeschüchtert, dass ihr Verhalten nicht mehr rational sein kann. Dem Opfer fehlt die für rationales Verhalten erforderliche Stärke. Außerdem verharmlost die Frage der Mitschuld das Verbrechen selbst, indem es suggeriert, dass aufgrund einer Opfer-Mitschuld das Verbrechen des Täters eine mindere Schwere hat. Das ist fatal, passiert aber allzu oft, wie uns die Tatsache zeigt, dass hierfür ein eigener Begriff existiert: das sogenannte VICTIM-BLAMING. Die viel wichtigere Fragen, die es zu beantworten gilt, sind erstens, warum ihr niemand geholfen hat. Möglicherweise hätte ein einziger Schüler mit genügend Charakterstärke ausgereicht, um die Situation kurzfristig zu drehen und ihr das Quäntchen Stärke zu geben, sich der Polizei oder Sozialarbeitern anzuvertrauen. Und zweitens, wo die Lehrer waren. Kanada ist ein Land, das international einen durchaus soliden und sozialen Ruf in der Bildungspolitik genießt. Daher müsste man eigentlich davon ausgehen, dass ein Lehrer ein derart massives Mobbing dort früh bemerkt haben müssen.Aber anscheinend war dem nicht so. Die Staatsanwaltschaft wird diese Fragen jetzt klären. Für Amanda Todd kommt das aber zu spät.
Dennoch ist eine Tatsache hier einzigartig: zum ersten Mal haben sich Hacktivisten, die behaupten, zum Anonymous-Kollektiv zu gehören, involviert und ein Video sowie persönliche Daten des mutmaßlichen Peinigers von Amanda Todd veröffentlicht. Ob diese Person wirklich der Täter ist, mögen wir hier nicht beurteilen. Sollte es so sein, dann war dies nicht sein erstes Opfer, wie sein Video aussagekräftig behauptet. Wir können also davon ausgehen, dass die verantwortliche Staatsanwaltschaft hier sehr schnell für Klärung sorgen wird. Wenn er NICHT der Täter ist, dann wird aufs neue die Diskussion entstehen, ob es richtig ist, die Daten des vermeintlichen Täters zu veröffentlichen, oder nicht doch besser gewesen wäre, diese bis zur endgültigen Klärung der Polizei zu übergeben. Seien wir ehrlich. Insgeheim wünschen wir uns, dass er der Täter ist und wir jemanden haben, den wir verantwortlich machen können. Dennoch liegt die Verantwortung, dass es überhaupt so weit kommen konnte, nicht nur beim Täter, sondern auch bei den Untätigen und bei den Mitmachern. Bei denen, die mitgemobbt haben und bei denen, die still zugesehen haben, wahrscheinlich, um zu vermeiden, selbst zum Opfer zu werden. Es ist immer wieder verwunderlich, wie wenig Zivilcourage in unserer Gesellschaft vorhanden ist und welch weiten Weg die Aufklärung noch immer vor sich hat. Wir müssen weiterhin sozialisieren, aufklären, unsere Kinder zu Mut und Charakter erziehen, bei Ungerechtigkeiten aufstehen und den Hilflosen helfen. Sonst sind es eines Tages vielleicht wir, die zum Opfer geworden sind und sich wundern, warum uns niemand hilft.
Quelle: http://www.gulli.com/news/20009-zum-freitod-des-mobbing-opfers-amanda-todd-kommentar-2012-10-19
Kommentar:
Zunächst einmal zu diesem Artikel: mein Kompliment. Besser kann man es kaum sagen!
Zur Sache selbst:
Solange in Deutschland die Staatsanwaltschaften das Thema Cyber-Mobbing nicht ernst nehmen,
alle Verfahren einstellen – entweder weil der Täter nicht ermittelt werden kann oder
mangels öffentlichen Interesses – bleibt doch Opfern gar nichts anderes übrig
als die Realdaten der Täter zu nennen.
Wenn es denen nicht passt – die ja regelmässig anonym unterwegs sind –
dann sollen die doch bitte klagen. Spätestens dann müssen sie ja die Hosen
runterlassen und mit Namen und gesicht in einem Gerichtssaal auftauchen.
Genau in deren Anonymität liegt das eigentliche Problem.
Wenn die keine erbärmlichen Feiglinge wären,
dann hätten sie doch den Mumm um ihre vermeintlichen Rechte
in einem Gerichtssaal zu kämpfen und nicht durch
Cyber-Mobbing im Internet aktiv zu werden.
Ich nenne Realnamen – seit 15 Jahren
Das werde ich auch künftig tun, wenn auf der anderen Seite Feiglinge sitzen.
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