Gerichtlicher Erfolg der Altenpflegerin Brigitte Heinisch
Von Sofia Staubach
28. Juli 2011
Unerträgliche Zustände in Altenpflegeeinrichtungen haben in den vergangenen Jahren die Runde gemacht. Jetzt hat die Berliner Altenpflegerin Brigitte Heinisch, die die Missstände an ihrem Arbeitsplatz aufgedeckt hatte und deshalb fristlos gekündigt worden war, nach jahrelangem Kampf vor dem Europäischen Gerichtshof für Menschenrechte (EGMR) einen Sieg errungen.
Das Straßburger Gericht urteilte am 21. Juli, die fristlose Kündigung einer Beschäftigten wegen der Veröffentlichung von Missständen an ihrem Arbeitsplatz verstoße gegen das Recht auf freie Meinungsäußerung nach Artikel 10 der Europäischen Menschenrechtskonvention.
Brigitte Heinisch hatte als Altenpflegerin seit 2002 in einem Pflegeheim der „Vivantes Netzwerk für Gesundheit GmbH”, Berlins größtem Betreiber von Krankenhäusern und Pflegeeinrichtungen, gearbeitet. Dort war sie mit katastrophalen Zuständen konfrontiert.
Pflegebedürftige Heimbewohner wurden ohne richterlichen Beschluss ans Bett gefesselt, um sie ruhig zu stellen, und lagen oftmals bis zum Mittag in Urin und Kot, weil zu wenig Personal vorhanden war, um sie zu waschen. Zeitweise war Brigitte Heinisch als einzige examinierte Pflegekraft auf der Station verantwortlich für 45 Pflegebedürftige auf zwei Etagen, musste gleichzeitig behandeln, waschen, pflegen und unzureichend ausgebildete Hilfskräfte beaufsichtigen. Die Pflegerinnen wurden von der Heimleitung zur Falschdokumentation veranlasst: das heißt, Behandlungen, die so nie stattgefunden hatten, sollten dennoch aufgezeichnet werden.
Sie machte zunächst intern die Vorgesetzten auf den Notstand aufmerksam, ohne Erfolg! Dann reagierte sie mit Überlastungsanzeigen, die mehrere Kollegen unterschrieben. Bestätigt wurde sie vom Medizinischen Dienst der Krankenkassen (MDK), der bereits 2003 die mangelhaften Befunde im Haus Teichstraße in Reinickendorf protokolliert hatte. Doch weder die Heimleitung noch der Betriebsrat reagierten darauf. Sie erklärten Heinisch vielmehr, man könne nichts machen. Ein Kollege, der in einem anderen Heim in Berlin-Zehlendorf eine Überlastungsanzeige unterschrieben hatte, wurde abgemahnt.
Schließlich erstattete Brigitte Heinisch im Dezember 2004 gegen ihren Arbeitgeber Anzeige wegen Abrechnungsbetrug. In der Anzeige heißt es unter anderem: „So werden Bewohner etwa nur einmal in der Woche geduscht und müssen teilweise stundenlang in ihren Exkrementen liegen, bevor sie gewaschen und das Bett gereinigt werden.“ Daraufhin wurde sie Anfang 2005 fristlos entlassen, mit der Begründung, die Offenlegung der innerbetrieblichen Missstände schädige das Unternehmen in einem Maße, dass eine Weiterführung des Arbeitsverhältnisses nicht mehr zumutbar sei.
Das Verfahren gegen Vivantes aufgrund der Anzeige stellte die Staatsanwaltschaft Berlin schon im Mai 2005 ein; die fristlose Kündigung der Altenpflegerin aber wurde 2006 in der zweiten Instanz vor dem Landesarbeitsgericht Berlin bestätigt. Das Bundesverfassungsgericht ließ keine Klage zu.
Der Europäische Gerichtshof für Menschenrechte weist diese gerichtlichen Entscheidungen nun zurück. Der Ruf der Firma könne nicht schwerer wiegen, als das öffentliche Interesse an der Aufdeckung von Missständen in Pflegeanstalten. Auf frühere Hinweise an die Geschäftsleitung habe das Unternehmen nicht reagiert, wodurch sich der Verdacht auf bewusste Vertuschung erhärtet habe. Brigitte Heinisch wurden vom EGMR 15.000 Euro Schadensersatz zugesprochen.
Das Urteil ist eine schallende Ohrfeige nicht nur für die deutsche Justiz, sondern auch für den Berliner Senat und seine Regierungsparteien SPD und Die Linke, die die Teilprivatisierung der Krankenhäuser und Pflegeeinrichtungen vorangetrieben haben. Die Linkspartei stellt mit Katrin Lompscher die Gesundheitssenatorin, die auch im Aufsichtsrat des Vivantes-Konzerns sitzt. Ebenfalls im Aufsichtsrat vertreten sind der Finanzsenator Ulrich Nussbaum (parteilos, für die SPD) und die Bezirksbürgermeisterin von Berlin-Marzahn Dagmar Pohle (Die Linke).
In dem 2001 gegründeten Berliner Klinikkonzern Vivantes GmbH wurden ehemals städtische Krankenhäuser Berlins zu einem Unternehmen mit privatwirtschaftlicher Rechtsform zusammengeschlossen. Das Land Berlin ist alleiniger Gesellschafter und damit für die Firmenpolitik verantwortlich. Die Pflegeeinrichtungen wurden in die Tochterunternehmen „Forum für Senioren” ausgegliedert und auf marktwirtschaftliche Kriterien ausgerichtet bzw. zu „Profitcentern” ausgebaut, wie es dazu im Vivantes-Geschäftsbericht 2003 heißt.
Nach der Gründung von Vivantes GmbH hat die Stadt 230 Millionen Euro in das Unternehmen gesteckt. Mit neun Krankenhäusern und zwölf Pflegeeinrichtungen in Berlin konnte Vivantes im Jahr 2010 6,3 Mio Euro Gewinn einfahren. Das ist mehr als doppelt so viel wie im Jahr 2009 erwirtschaftet wurde (2,6 Mio). Auch der Umsatz konnte von 785 Mio Euro 2009 auf 837 Mio Euro 2010 gesteigert werden.
Dabei befand sich der Konzern zu Beginn seiner Laufzeit tief in den roten Zahlen, und es drohte die Zahlungsunfähigkeit. 2004 wurden die Beschäftigten in einer Vereinbarung der Gewerkschaft ver.di mit dem Vorstand gezwungen, auf Urlaubs- und Weihnachtsgeld zu verzichten, um die drohende Insolvenz zu verhindern.
Als Kehrseite der Gewinnmedaille wurde über die vergangenen Jahre stetig Personal abgebaut. Ende 2005 entfielen bereits 350 von 1.500 Arztstellen. Viele Zeitverträge sollten bis 2008 auslaufen. Im Ganzen wurden von 2001 bis 2010 rund 125 Millionen Euro an Personalaufwand eingespart und 3.000 von einst 15.500 Stellen gestrichen.
Das hinderte Senatorin Katrin Lompscher allerdings nicht daran, in ihrer Rede zum Festakt „10 Jahre Vivantes“ am 10. Februar 2011 im Roten Rathaus das Unternehmen in den höchsten Tönen zu loben. Vivantes leiste „zuverlässig eine hochwertige Patientenversorgung” und stehe zusammen mit den Universitätskrankenhäusern Charité als „Leuchtturm für den Gesundheitsstandort Berlin” (Vivantes-Geschäftsbericht 2010). Zum Zeitpunkt dieser Rede lag die Akte „Heinisch” bereits beim EGMR!
Das „Leuchten” des Gesundheitsstandortes Berlin gibt es weder für Patienten noch für die Arbeitnehmer. Mitschuld daran hat die Gewerkschaft ver.di. Sie hat zwar Brigitte Heinisch arbeitsrechtlich vertreten, wenn auch erst ab 2006 mit der Begründung, dass Heinisch erst im Verlauf des Verfahrens in die Gewerkschaft eingetreten sei. Doch gleichzeitig trägt ver.di eine Hauptverantwortung für den Arbeitsplatzabbau und die verschlechterten Arbeitsbedingungen des Pflegepersonals und damit auch sinkende Qualität der Pflege in den vergangenen Jahren.
Die verheerende Rolle von ver.di wurde erst im Mai diesen Jahres erneut deutlich, als das Pflegepersonal der Berliner Charité tagelang in einen Streik trat, um für bessere Arbeitsbedingungen und Bezahlung zu kämpfen. Die zuständigen ver.di-Funktionäre sorgten dafür, den Streik im entscheidenden Moment abzuwürgen und die Tarifverhandlungen im Sinne des Unternehmens zu entscheiden. Durchgesetzt wurde ein Tarifvertrag, der den etwa 10.000 Pflegekräften eine Tariflaufzeit von fünf Jahren aufzwingt, in der Arbeitskämpfe rechtlich nicht zulässig sind.
Auch die Teilprivatisierungen und Ausgliederungen im Krankenhaus- und Pflegebereich tragen die Unterschrift der Gewerkschaftsvertreter. Im Aufsichtsrat der Vivantes GmbH befinden sich mit der Berliner Vorsitzenden Susanne Stumpenhusen und der Gewerkschaftssekretärin Heike Spies gleich zwei ver.di-Funktionäre sowie drei Betriebsräte. Während sie sich nach außen den Mantel des Arbeitnehmerschützers umwerfen, sitzen sie mit den Unternehmern an einem Tisch, um den „Gesundheitsstandort Berlin” und die „Gesundheitswirtschaft” möglichst profitabel zu gestalten.
Quelle: http://www.wsws.org/de/2011/jul2011/hein-j28.shtml
Kommentar:
So sehr ich es begrüße, dass der EGMR der Betroffenen eine Entschädigung zugesprochen hat, so wenig finde ich die Höhe angemessen. Der Verlust des Arbeitsplatzes ist keine Bagatelle. Nun ist das Urteil zum einen noch nicht rechtskräftig, zum anderen liegt uns der Text noch nicht vor, sodass über die Entscheidungsgründe noch nichts gesagt werden kann.
Dennoch ist dieses Urteil wohl insoweit bahnbrechend, als unsere deutsche Justiz mal eine Grenze gesetzt bekommt. Entscheidend wird jetzt sein, was unsere Anwälte in Deutschland daraus machen. Sobald wir mehr wissen, werden wir diesen Fall im Juristischen Fachausschuss erörtern und auch überlegen, ob die handelnden Personen jetzt ebenfalls zu verklagen wären. Auch Politiker hätten hier Verantwortung zu übernehmen.
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